Lesen geht anders
Melanie hat Panik in der Klasse laut lesen zu müssen. Auch eigene Hausaufgaben kann sie kaum vorlesen. Sie verhaspelt sich und bekommt Schweißausbrüche. Um das zu vermeiden, redet sie sich oft raus. Sie sagt: Ich zick´ rum, bis die Lehrkräfte es aufgeben“, und kassiert dafür schlechte Noten. Wenn sie Referate vor der Klasse halten muss, versucht sie, alles auswendig zu lernen.
Sie berichtet von mehreren Abhilfeversuchen, die sie wegen ihrer Lesestörung unternommen hat, unter anderem zwei Jahre (!) kinäsiologische Behandlung: „Gelesen hat die Frau eigentlich nicht mit mir. Nur so Überkreuz-Übungen… Die haben gesagt, weil ich nicht gekrabbelt bin, sondern gleich gelaufen, dass da die Gehirnhälften nicht verschaltet sind.“
Kloss: Okay, du kannst nicht Lesen, sagst du. Kannst du´s mir mal zeigen, wie das aussieht?
M: Nee. (Sie will nicht. – Ich hole einfache Kinderbücher heraus.)
Kloss: Irgendwas davon?
M: Na ja, so was geht vielleicht schon. ( Sie liest ein kleines Stück. Sehr langsam und ohne Betonung. Ich sehe, dass sie mit den Augen auf den Worten klebt.)
Kloss: Na, ging doch.
M: Manchmal geht es auch.
Kloss: Okay, wo sind deine Augen beim Lesen?
M: Äh?
Kloss: Ja, lies noch mal und versuch dabei darauf zu achten, wo deine Augen sind.( Sie liest.)
M: Ja, genau da, wo ich les´. Wenn ich bei dem Wort ‚angefangen‘ bin, dann bei ‚an‘ bin ich bei an und dann bei ‚fang‘, bei fang und bei ‚en‘ bei en. Nur manchmal ist das halt dann so, dass ich dann bei irgendwelchen Enden nicht weiß, wieso die da jetzt sind z. B. ‚anhängend‘, wieso da jetzt das ‚d‘ dran ist, das find ich dann irgendwie komisch. Ich versteh auch oft nicht, was ich lese; wenn ich laut lese, schon gar nicht.
Kloss: Das heißt, du bist mit den Augen immer genau bei der Stelle im Wort, was du gerade aussprichst. Und manchmal gibt es dann Wortteile, die dich verwirren, weil du den Zusammenhang nicht mitbekommst.
M: Ja.
Wie viele andere Kinder und Erwachsene, denkt M, dass sie die Buchstaben wie bei einer Tonband- oder CD-Wiedergabe quasi gleichzeitig beim Darübertasten mit den Augen aussprechen muss. Auch gute Leser, die es beim Lesen anders machen, haben oft diese falsche Theorie über den Lesevorgang. Aber Lesen geht anders.
Kloss: Okay. Es ist so, dass es sehr ungünstig ist, die Augen genau auf den Wörtern zu haben, die man gerade liest. Das geht deshalb nicht, weil du, um zu wissen, wie du das Wort aussprechen musst, mit den Augen vorschauen musst. Du musst zuerst verstanden haben, was da steht, bevor du es laut aussprechen kannst.
M: Ich weiß, manche Leute, die sind mit den Augen schon eine Zeile drunter, wie das gehen soll, dass kann ich mir gar nicht vorstellen.
Kloss: Ich zeig ´s dir!
M: Nee, das geht nicht, das kann ich mir nicht merken.
Kloss: Doch.
M: Nee, da vergesse ich, was da stand.
Kloss: Nö, sicher nicht. Pass auf.
Ich nehme ein Bilderbuch, und M. schaut Wörter an und spricht sie anschließend aus, ich decke sie mit der Hand ab. Nach einer Weile steigere ich die Geschwindigkeit beim Abdecken, so dass das Wort beim Aussprechen schon weg ist. Nach einiger Zeit decke ich das Wort schon ab, bevor M. mit dem Aussprechen begonnen hat. Wir steigern die Anzahl der Wörter bis zu Satzteilen. Besonders geeignet für diese Übung sind Gedichte oder Kinderbücher mit Sinnschritt-Druck, sodass man immer eine Zeile mit wenigen Wörtern abdecken kann.
Innerhalb einer Stunde macht M. erhebliche Fortschritte.
Sie ist überrascht, wie schnell sie sogar schwer zu lesende Unsinnsgedichte auf diese Art lesen kann.
Kloss: Hast du verstanden, was du vorher gemacht hast, und was eigentlich günstiger wäre?
M: Ja, vorher hab ich versucht mit den Augen ganz genau auf dem Wort zu bleiben, aber es ist eigentlich besser, ein bisschen vor zu schauen.
Kloss: Ja genau.
M: Ja, und wieso sagen einem die Lehrer das nicht?
KLoss: Die Lehrer können dir das nicht sagen, weil sie es nicht wissen. Die meisten Kinder kommen irgendwie selbst drauf oder auch nicht. Bei dir ist es ja sogar so, dass du dir extra Mühe gegeben hast, mit den Augen genau auf dem Wort zu bleiben, weil du gedacht hast, das genau würde dazu führen, dass du besser lesen kannst. Du hast also absichtlich gegengesteuert und leider hat dich niemand darauf aufmerksam machen können, dass es so nicht funktionieren kann.
M: Ja, das ist doch blöd, dass gerade das, was ich dachte, was schlecht ist, dass es dann damit besser geht.
Kloss: Ja, schon.
Wir üben noch eine Weile.
Kloss: Mal stopp. Wie geht es?
M: Ja, ich merk, dass ich, wenn ich anfange mit Lesen, dann bin ich noch mit den Augen vor, aber kann komme ich wieder in die alte Art rein. Ich wechsle da immer.
Kloss: Ja, das ist normal. Du fängst mit vorausschauendem Lesen an, dann denkt dein Gehirn: „Ach, das ist ja Lesen“, und springt auf die alte Spur. Aber du kannst anhalten und es wieder anders machen.
M: Ja, stimmt.
Kloss: Ja, genau. Das ist nicht so: Einmal nicht gekrabbelt: Verhängnis! Du bist dieser Sache nicht mehr ausgeliefert, du kannst bewusst gegensteuern.
M: Hm, ich weiß aber nicht, ob ich mir das jetzt so merken kann.
Kloss: Ja, du musst üben. Wenn du das übst, wirst du wunderbar lesen können. Es reicht, wenn du ab und zu mal z. B. bei jeder Hausaufgabe drei Sätze laut liest, du musst nicht den ganzen Text laut lesen. Immer mal wieder die Bahn im Gehirn befahren. Das wird ausreichen. Gut ist, wenn du kleinen Kindern vorliest! Denen ist das auch egal, ob du dich mal verliest oder so.
Wir verabreden ein weiteres Treffen, um die Fertigkeit zu festigen.